Velo-Enthusiast Gunnar Fehlau hat 2023 seinen Hausrat inklusive Büro aufs Lastenrad verladen. Seither lebt und arbeitet der 50-Jährige vom Rad aus – und das noch bis Ende Jahr. Für easybiken zieht er nach 200 Tagen eine Zwischenbilanz über das Leben als Fahrradnomade.
Für meine Workpacking-Tour fehlt es mir eindeutig an praktikablen Vorbildern. Die meisten digitalen Nomaden sind per Van oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs; Radreisende hingegen verbrauchen ihre Ersparnisse oder arbeiten sporadisch vor Ort. All das möchte ich nicht tun. Ich möchte weiter in meinem Job als Kommunikationsakteur zwischen Medien- und Fahrradwelt arbeiten und gleichzeitig unterwegs sein und (Rad-)Abenteuer erleben. Das erklärt auch die Wortschöpfung «Workpacking», als Fusion aus «Work‘n‘Travel» und «Bike-
packing». Es geht um eine Gleichzeitigkeit von Alltag, Arbeit und Abenteuer. Und zwar mit dem Rad. Während es bei Outdoor-Ausstattern eigens Rubriken für Vanlife (die Ausrüstung ist meist zu schwer) oder Weitwandern (die Ausrüstung ist meist zu leicht und filigran) gibt, sucht man die Anwendung «dauerstabil, fürs Radfahren geeignet und Mobile-Office-gerecht» vergebens. So habe ich die letzten 15 Jahre Bikepacking, meine Jugend bei den Pfadfindern und die vielen Geschäftsreisen in einen Packlistenmixer gesteckt und bin mit diesem Setup am 2. Januar 2023 in Göttingen gestartet.
Rastlos statt Routine
Weder auf dem Rad noch im Nachtlager oder bei der Arbeit konnte ich auf Routinen zurückgreifen. Entsprechend holperig war der Start. Das könnte auch am Wetter gelegen haben. Von Göttingen aus ging es über Fulda, Darmstadt, Karlsruhe und Freiburg in die Schweiz. Bereits am ersten Tag hatte ich einige Stunden Regen bei gerade 8 °C. Die zehnte Fahretappe, von Basel nach Nottwil, stellte den Tiefpunkt der ersten Wochen dar: Gute fünf Stunden kämpfte ich mich bei 2 °C und Gegenwind durch den Schneeregen. Die Velosuisse-Veranstaltung «InfoTech» erreichte ich in sehr derangiertem Zustand und freute mich über meine erste Hotelübernachtung auf der Tour. Mitte Februar, ich war bereits über Huttwil, Zürich und Kreuzlingen nach Konstanz an den Bodensee gefahren, den ich via Friedrichshafen, Dornbirn und St. Gallen einmal umrundete, fällte ich eine schwerwiegende Entscheidung: Mein Tipizelt mit Titan-Holzofen, eine Kombi, die zwar perfekte Fotos für Instagram liefert, sich in der Praxis aber als zu schwer und unhandlich herausgestellt hatte, flog zugunsten eines leichten Kuppelzeltes raus. Das sparte mir in Summe mit aller dazugehöriger Ausrüstung fast zehn Kilogramm und gute 30 Minuten beim Auf- und Abbau.
Das vierte A: Adaption
Diese Anpassungen zwischen Erwartungen, Annahmen und der Workpacking-Realität dominierten die ersten Wochen. Dies betraf die drei As meiner Workpacking-Tour: Alltag, Arbeit und Abenteuer. Diese drei Stränge laufen parallel auf dieser Tour und wollen stetig an die Situation, Möglichkeiten und den Stand der Erkenntnis adaptiert werden. Zwar hatte ich mir für den Tagesablauf eine präzise Struktur zurechtgelegt, doch lässt sich diese nicht einfach stoisch umsetzen. So wollte ich an sechs Tagen in der Woche jeweils sechs Stunden arbeiten und an sieben Tagen in der Woche jeweils circa 50 Kilometer fahren. Ich habe bisher kaum ein Dutzend Mal sechs Stunden an einem Ort und am Stück gearbeitet; meist findet das Tagwerk in Häppchen statt. Der Rekord liegt bei fünf verschiedenen Orten, an denen ich meinen Laptop am gleichen Tag aufgeklappt habe.
7-mal-50-Kilometer-Routine
Beim Radeln sieht es ähnlich aus. An manchen Tagen steige ich überhaupt nicht aufs Rad, an anderen Tagen muss ich mächtig Meter machen, um zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein. Satte 175 Kilometer standen nach dem längsten Radtag auf dem Tacho. An solchen Tagen bleibt kaum Zeit für andere Dinge. Vor diesem Hintergrund wird einer vorausschauenden Terminplanung eine besondere Bedeutung zugesprochen. Ich muss schmerzhaft erkennen, dass die Normalität in der Fahrrad- und Medienwelt ein anderes Mobilitäts- und Distanzenselbstverständnis hat und dies nicht so recht workpackingkompatibel ist. Menschen vereinbaren Termine mit zwei oder drei Tagen Vorlauf in 500 Kilometer Entfernung mit einer Selbstverständlichkeit, vor der meine 7-mal-50-Kilometer-Routine kapitulieren muss. Mein Mobilitätsradius reicht schlicht nicht aus für diese schnelllebige Wirtschaftswelt. 500 Kilometer, die mit Zug, Auto oder Flieger easy innert einem Tag zurückgelegt werden können, benötigen nach meiner Logik zehn Tage. Das sorgt für manche Dissonanz, für manche Marathonfahrt und leider auch für manche Dienstreise auf der Workpacking-Tour: Dann parkt mein Cargobike und ich nutze Bus und Bahn, um pünktlich zu sein.
Die Sinnfrage nach dem Warum
Viele Menschen fragen mich, warum ich das überhaupt mache, welcher Sinn hinter Workpacking steht. Workpacking ist für mich eine faszinierende Option, Alltag, Arbeit und Abenteuer anders abzumischen, als es in der «Normalität» der Fall ist. Gleichzeitig ist meine Workpacking-Tour der Transit zwischen zwei Lebensphasen. Unsere beiden Söhne sind zum Studieren ausgezogen und meine Frau und ich haben nun die Chance, das Zusammenleben noch einmal neu zu justieren. Dafür tut ein gewisser Abstand gut, obschon wir per SMS, Telefon und Zoom im engen Austausch sind. Einmal im Monat sehen wir uns am Wochenende an einem für uns beide verkehrstechnisch günstigen Ort. Der Lebensabschnitt «Familiennetz» geht nun zu Ende und diese 20 Jahre haben uns beide und unsere Beziehung verändert. Es lohnt sich, da einmal genau hinzuschauen, reinzufühlen und anzunehmen, was diese Zeit mit uns gemacht hat und in welchen Bahnen dies in die Zukunft führt. Schliesslich gilt: Niemals badet derselbe Mensch ein zweites Mal im selben Fluss. Auch diese Reise wird mich und uns verändern. Die Tour versorgt meine Entwicklung mit reichlich neuen Impulsen und Impressionen. Zudem kann ich hier über die vielen verpassten Reisen, Treffen und Vis-a-vis-Gespräche im privaten und beruflichen Kontext sprechen, die Corona zum Opfer fielen. Ein wenig möchte ich dies mit dieser Tour nachholen, soweit das eben geht. Mit der Begeisterung für diesen Ansatz bin ich nicht allein. Die Bike-Bild-Redaktion fand das derart inspirierend, dass sie mich im Rahmen des «Bike Bild Award 2023» als «Fahrradpersönlichkeit des Jahres» auszeichnete.
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Den kompletten Bericht von Gunnar Fehlau gibt es im Magazin easybiken, Ausgabe 2/2023 zu lesen.
Text und Fotos: Gunnar Fehlau
aus: easybiken, Heft Nr. 2/2023